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Dr. Sigrid Graumann-Brunt
Auf ein Wort
4. Der Weitwurf
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Auf ein Wort
4. Der Weitwurf
Der Sommer brachte mir als Schulkind nicht nur das freudig begrüßte Hitzefrei, sondern auch die
Fron der leichtathletischen Betätigung. Sie sehen, ich war kein Freund der Bundesjugendspiele.
Da lauerten verschiedene Ärgernisse, die mein Selbstwertgefühl empfindlich beeinträchtigten.
Eines davon war der Weitwurf mit dem Schlagball. Ich kann mich noch gut erinnern, wie bei der
Schulkameradin, die später Sport studieren sollte, gerufen wurde: 32m und bei mir 11m.
Welche Erniedrigung! Ich war also eine schlechte Werferin, das blieb als persönliche Eigenschaft
haften. Hätte ich meinen Lebensunterhalt später mit dem Bumerang erwerben müssen,
hätte ich existentielle Probleme gehabt, so aber blieb nur die Erinnerung an traurige Erlebnisse.
Viele Jahre später, als ich mit der Arbeit an den Resten frühkindlicher Reflexe in
Berührung kam, kam mir das wieder in den Sinn. Ich ging der Sache nach und stellte fest,
dass ich einen ziemlich ausgeprägten Klammergriff hatte, vor allem in stressbelasteten
Situationen: Meine Daumen lagen innen und alle Finger waren gebeugt; die Füße beteiligten
sich auch an dieser Beugung, jedenfalls so weit es ihnen in den Schuhen möglich war. Die
klassischen Begleiterscheinungen wie eine unsaubere Schrift oder Ungeschicklichkeit in der Feinmotorik
hatte ich nicht. Ich war, was das anging, gut gefördert worden, allerdings habe ich nie freiwillig
etwas gemalt. Auch Haare spielten in meinem Leben nicht die Rolle, wie sie sie in dem Symptomkomplex
normalerweise einnehmen (Klammern des Säuglings an den Haaren der Mutter in der Frühzeit der
Menschen).
Durch diese mir neuen Erkenntnisse war ich ganz plötzlich entlastet, was mein Versagen im Weitwurf
anging. Ich hielt den Ball ja viel zu lange unwillkürlich klammernd fest, so dass die Kurve, die
er machte, sich bereits wieder dem Boden zuneigte, wenn ich ihn endlich loslassen konnte. Das
frühkindliche Klammern ist nicht nur willentlich gar nicht zu beherrschen, sondern es dauert
auch eine ganze Weile, bis es aufhört. Es hat eben diese Zwanghaftigkeit in sich, die die
frühkindlichen Bewegungen alle haben.
Ich beschloss, in einem Selbstversuch an meinem Klammergriff zu arbeiten, auch, um mit eigenen Augen zu
sehen, ob an der Sache was Wahres dran war. Ich klammerte also häufig in allen möglichen
Situationen, selbstverständlich mit geschlossenen Augen. Und siehe da: Der Klammergriff verschwand
und kam seit fast 20 Jahren nicht wieder. Eines Tages fand ich einen Tannenzapfen im Garten und warf
ihn. Ich hatte meine Kompetenzen im Werfen noch nicht korrigiert. Nur mit Glück flog das
Wurfgeschoß an der Scheibe eines entfernten nachbarlichen Hauses vorbei.
Allerdings kann ich meine miserablen Noten im Weitwurf jetzt nicht mehr verbessern, aber mein Selbstbild
ist immerhin wieder hergestellt. Ab und zu kommt mir sogar der Gedanke, freiwillig einen Stift in die Hand
zu nehmen. Außerdem kann ich diese recht einfachen Übungen (Klammern mit geschlossenen Augen
mit beiden Händen, möglichst auch den Füßen, Daumen innenliegend) jedem, der zu unserer
Gemeinschaft der frühkindlich Klammernden gehört, guten Gewissens empfehlen.
© Dr. Sigrid Graumann-Brunt 2020
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