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Dr. Sigrid Graumann-Brunt
Auf ein Wort
Verdachtsmomente
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Auf ein Wort
Verdachtsmomente
Als ich anfing, mich mit dem Wesen der Diagnose auseinanderzusetzen, stolperte ich über ein Buch von
Pieter B. Bierkens. Er kam völlig aufgewühlt von einem Kongress nach Hause, denn es hatte dort
einen heftigen Eklat wegen eines Diagnosemodells gegeben. Ich würde sagen, das Geld für diesen
Kongress hatte Bierkens gut angelegt, denn Auseinandersetzungen auf einem Kongress sind meiner Meinung nach
immer noch besser als Langeweile. Und zu meinem Glück schrieb er daraufhin dieses Buch.
Diagnose hat von Haus aus viel mit Nachdenken über unsere Patienten zu tun. Zunächst scheint eine
Diagnose klar zu sein, aber je länger die Therapie andauert, desto mehr entsteht das Gefühl eines
unüberschaubaren Dickichts, in dem Fallen lauen. Der Grund dafür ist recht einfach: Die Fallen
stellen wir uns selber, denn wir können nur das erfassen, was wir schon kennen. Mit jedem Fall begegnen
uns jedoch neue Phänomene, die sich nur mit Gewalt in eine der uns bereits zur Verfügung stehenden
Schubladen pressen lassen. Diese nonkonformen Phänomene treiben uns um, sie geben keine Ruhe, sie
wollen Besseres.
Zum Beispiel L. war noch nicht eingeschult, aber es war unübersehbar, dass Lernschwierigkeiten
auftreten würden. Nicht nur, dass L. sich nicht wie andere Kinder auf das Spielzeug stürzte,
sie saß da wie eine massive Statue, antwortete auf Fragen mit einem Einwortsatz und schwieg dann
wieder in ihrer einsilbigen Welt. Es haperte offenbar sowohl auf der sprachlichen, als auch auf anderen
Ebenen der kindlichen Entwicklung. An Willigkeit fehlte es bei ihr nicht, aber der Therapieverlauf war
dennoch zäh.
Ich kam ins Grübeln, was dahinter stecken mochte. Die Familie vermutete eine psychische Problematik,
denn es war noch ein Geschwisterchen nachgekommen, nachdem L. längere Zeit die Jüngste gewesen
war. Aber irgendwie schien das für L. kein entscheidendes Problem zu sein. Ich zog hingegen eher ein
Schilddrüsenproblem im Hintergrund wirkend in Betracht. Gespräche über ein nicht ausreichend
erfolgreiches Toilettentraining tauchten immer wieder auf und das an dem für Wahrheiten bevorzugten
Ort: Zwischen Tür und Angel. Ich kürze es ab: Erst eine stationär durchgeführte
Untersuchung zeigte, dass L. jahrelang sehr schwere Verdauungsprobleme/Verstopfungen hatte und dass
das System über Durchfälle verzweifelt versuchte, den überfälligen Darminhalt
loszuwerden.
Eine unerkannte Verdauungsstörung vergesellschaftet mit Entwicklungsstörungen wie bei L. blieb
kein Einzelfall in meiner Praxis. Andere Patienten, die ebenfalls dieses Problem hatten, kamen mit
Zuschreibungen wie Autismus oder sogar einer geistigen Behinderung in Therapie. Etliche dieser Kinder
hatten diese wunderschönen, sehr festen Haare, die rötlich und goldfarben leuchteten. Ob es
sich dabei um Ablagerungen von Stoffen, vielleicht von Metallen handelt, kann ich bis heute nur vermuten.
Alle diese Kinder wirkten körperlich massiv und waren schwer, wenn man sie hochhob.
Dass es eine Weile dauerte, bis diese den Kern berührende Ursache bei L. ans Tageslicht kam, ist nicht
untypisch für eine Individualdiagnose. Auch wenn Diagnose ihrer Natur nach etwas mit Wiedererkennen
zu tun hat, wie bei meinen späteren Fällen ersichtlich, ist Diagnose an sich nicht statisch.
Sie ist nicht wie eine Sache, sondern vielmehr ein konvergierender Prozess. Bierkens stellt diesen Prozess
sehr anschaulich dar: Neue Gesichtspunkte kommen hinzu, werden wieder verworfen usw. Unbemerkt, allerdings
äußerst entscheidend gehen viele unterbewusst gespeicherte Inhalte in diesen konvergierenden
Prozess ein. Empathie ist gefragt, denn wir fühlen uns in den Patienten ein, ob wir wollen oder
nicht – es handelt sich hierbei um rechtshemisphärisch erlebte Anteile im Diagnoseprozess.
Bekanntermaßen waltet in der rechten Hemisphäre Bildsprache, nicht die Lautsprache.
Deshalb ist es auch nicht unbedingt leicht, das, was man diagnostisch erkannt hat, anderen zu vermitteln.
Noch etwas: Die Gespräche mit den Eltern sind wichtig, auch wenn sie nicht unbedingt auf der Stelle
zu einem für die Therapie nützlichen Ergebnis führen. Der Austausch hat es an sich,
schlummerndes Wissen zu wecken, das sich dann schleichend wie im Fall von L. den Weg an das Tageslicht
bahnt.
© Dr. Sigrid Graumann-Brunt 2020
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