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Dr. Sigrid Graumann-Brunt
Auf ein Wort
Glück und Nützlichkeit
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Auf ein Wort
5. Glück und Nützlichkeit
Ich kann mich gar nicht erinnern, dass Eltern jemals mit der Bitte in meine Praxis gekommen wären,
ihrem Kind zu helfen, weil es nicht glücklich sei.
Eltern klagen darüber, dass es in der Schule hapern würde, dass ihr Kind ständig vor dem
Laptop säße, dass ihr Kind nicht sprechen würde oder dass die Aussprache nicht perfekt
wäre. Man erfährt, dass das Kind nicht rechnen könne, dass es zu dick sei, dass es sich
nicht bewegen würde, dass es keine Freunde habe, dass die Lehrerin mit seinem Verhalten unzufrieden
sei usw. Beschäftigt man sich näher man den vorgebrachten Klagen, so betreffen so gut wie alle
einen Mangel im optimalen Funktionieren innerhalb der Parameter der gesellschaftlichen Norm. Das Kind
erfüllt nicht das von der Umgebung erwartete Idealbild.
Die Eltern haben große Angst, dass ihr Kind später in der Gesellschaft nicht funktionieren
könne und deswegen im Elend landen würde. Natürlich ist diese Einschätzung nicht
unrealistisch und es ist durchaus vonnöten, sich mit den beklagten Problemen zu befassen.
Schließlich leben wir alle in einem gesellschaftlichen System, das bestimmte Anforderungen
an das Individuum stellt. Aber gibt es wirklich nicht mehr im Leben eines Kindes?
Betrachten wir den Fall von S.: Er hat das Schreiben nach Gehör erlernt und sitzt jetzt, im 4.
Schuljahr, da mit einer normabweichenden Rechtschreibung. Die automatisierten falschen Konzepte sind
nur sehr mühsam zu überschreiben. Überraschend ist das nicht, denn diese Konzepte
widerstehen einer Revision besonders hartnäckig. Er sieht sich selbst als Versager. Seine
inzwischen zur Legasthenie gewordene Rechtschreibproblematik ist ein Dauerthema in Schule und
Familie und macht ihn unglücklich. Die Schriftsprache ist ihm unheimlich, was ihn beim
Schreiben und Lesen hindert. Dass er hingegen wunderbar kreative und handwerklich ausgefeilte
Objekte herstellt, scheint kaum von Bedeutung zu sein.
Für sein Dilemma kann S. nichts. Manche Kinder lernen Schreiben und Lesen mühelos, bei anderen
geht es nicht ohne kompetente Hilfestellung. Den Gründen dafür muss an anderer Stelle nachgegangen
werden - sie sind auf jeden Fall vielfältiger Natur. Das Unglück mit der Rechtschreibung
übernimmt S. seinem Umfeld. Er lernt und vertieft dieses Unglücklichsein, lernt, dass er versagt
und verliert dadurch an Selbstvertrauen. Er könnte in seinem Innersten verbittert werden, da er
seiner Umgebung vertraute, ihm das aber geschadet hat. Dies kann zu einer Entfremdung von sich selbst
und von seiner Umwelt führen.
S. ist kein Einzelfall. Schriftsprache wird in unserer Gesellschaft wegen ihrer Nützlichkeit hoch
gehandelt und Nützlichkeit steht an erster Stelle. Aber Nützliches sollte auch sinnvoll sein
und darf nicht unglücklich machen. Keineswegs müssen und können Kinder unaufhörlich
glücklich sein, aber sie brauchen und verdienen glückliche Momente. Damit ist nicht der
Spaß bei Events gemeint oder das Gefühl, sich durchgesetzt zu haben, auch nicht der Zustand
der Zufriedenheit, sondern ein unbestimmbares, inniges, seliges Gefühl. Um es zu beschreiben, sind
Worte nicht geeignet, Metaphern taugen: Es ist wie ein warmer Sonnenschein nach einem kalten Winter,
wie ein schöner Regenbogen oder wie die Mischung aus Stolz, Erleichterung und Freude Fahrradfahren
endlich gelernt zu haben. Beim Spielen können Kinder glücklich sein, dann sieht man ihnen das
an.
Schleiermacher hat uns darauf aufmerksam gemacht, dass der Besuch einer Schule und schulische Anforderungen
nicht per se richtig und selbstverständlich sind. Er sprach von Aufopferung von Lebenszeit für
einen späteren Moment. Ich gehe davon aus, dass er dabei auch die Verantwortung derjenigen, die die
Kinder betreuen, im Blick hatte.
© Dr. Sigrid Graumann-Brunt 2020
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