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Gabi, Mitmenschlichkeit und Kulturtechniken




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6. Gabi, Mitmenschlichkeit und Kulturtechniken

Gabi war eine Schülerin in meiner 2.Klasse. Wir beide, sie und ich, hatten ein Problem: Gabi konnte das Lesen nicht lernen. Ich versuchte alles, was mir nach meinem damaligen Kenntnisstand als junge Lehrerin nur möglich war, es klappte einfach nicht. Da ich sehr ehrgeizig war, was die Fortschritte „meiner“ Kinder anging, machte mir das ziemlich zu schaffen.

Eines Tages kam Gabi in der Pause zu mir ans Lehrerpult. Es ging nicht ums Lesen, sondern um etwas ganz anderes. Sie sagte: „Frau Graumann, die Sabine wird zu Hause von ihrem Stiefvater schlimm geschlagen.“ Sabine lebte noch nicht lange in dieser Familie, sie war in einem Heim groß geworden.

Ich war entsetzt, wie sich jeder denken kann. Was Gabi gesagt hatte, erwies sich als wahr. Es kam wieder vor und Verletzungen waren sichtbar. Der Schularzt kam uns zu Hilfe. Ich konnte Sabine mit zu mir nach Hause nehmen. Eine freundliche Familie hat sie später aufgenommen und ihr ein gutes Zuhause gegeben. Der Anfang war nicht leicht, wie die Pflegemutter erzählte, aber alles wurde gut. Ich habe immer noch Fotos und Briefe von Sabine aufbewahrt, auch noch welche, die sie mir als Erwachsene geschrieben hat.

Ich würde den Blick gerne auf etwas anderes richten: Gabi würde nach der Elle, die wir an unsere Kinder im Schulalter gewohnheitsmäßig anlegen, als nicht lesendes Kind keine besondere Wertschätzung erfahren. Völlig übersehen würden wir bei ihr, dass sie als noch recht junges Kind bereits neben einer großen Reife der Persönlichkeit eine mitmenschliche, gütige und selbstlose Haltung bewiesen hat, die ihresgleichen sucht. Es war damals nicht selbstverständlich, die Lehrerin auf so etwas anzusprechen. Und wer kennt ein Kind in diesem Alter, das sich so verantwortungsbewusst für ein anderes einsetzen würde? Sie war mit Sabine nicht einmal befreundet, denn Sabine hatte keine Freunde, konnte sich Freunde nicht leisten.

Ich kann das, was ich auch an anderer Stelle angesprochen habe, gar nicht oft genug wiederholen: Wir schätzen in unserer Zivilisation Kompetenzen hoch ein, die nützlich sind, für was und wen auch immer. Der Grad der Mitmenschlichkeit wird nicht als so wichtig erachtet wie das Können in Lesen, Schreiben, Rechnen und anderen Kulturtechniken.

Mitmenschliches Fühlen und Handeln sind jedoch in unserem Zusammenleben unverzichtbar, sie erzeugen die soziale Gemeinschaft, von der wir leben. Die zivilisatorischen Fertigkeiten sind zwar sehr wichtige Attribute unserer Persönlichkeit, aber eben Attribute, sie machen nicht die Substanz, den Wesenskern unserer Persönlichkeit aus.

Verstehen Sie mich nicht falsch: Ich finde schon, dass jemand vernünftig sprechen, lesen, schreiben und rechnen können sollte. Mit der Zeit habe ich auch dies und das an Wissen dazugewonnen, wie man es Kindern nahebringen kann und könnte heutzutage Gabi vielleicht eher weiterhelfen. Aber ich mache mir keine Sorgen um sie, denn sie wird auch ohne mich zurechtgekommen sein. Letztlich hat jemand wie sie eine bessere Prognose für das Leben als manch anderer.

© Dr. Sigrid Graumann-Brunt 2020