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Dr. Sigrid Graumann-Brunt
Der Zeigefinger auf der Unterlippe
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Der Zeigefinger auf der Unterlippe
Autor: Dr. Sigrid Graumann-Brunt
Kindergartenkinder sprechen natürlicherweise noch nicht normgerecht. Es gibt jedoch einige Kinder,
bei denen die Normabweichungen so gehäuft auftreten, dass es manchmal nicht mehr möglich ist, zu
entziffern, was sie sagen wollen. Die Ursachen werden im individuellen Fall verschieden und nicht
so leicht zu identifizieren sein.
Es gibt jedoch eine sehr einfache Möglichkeit, die Kommunikation etwas zu verbessern: Wir können den
Zeigefinger auf die (eigene) Unterlippe legen, ein Wort aussprechen und das Kind bitten, auf den Finger
und die Lippen zu blicken. Im Anschluss bittet man das Kind, das Wort auszusprechen.
Es hat sich herausgestellt, dass dieses Vorgehen fast immer eine Verbesserung mit sich bringt. Dass dem
so ist, gibt zu Vermutungen Anlass.
Eine wäre, dass es mit dem zu tun haben könnte, was Piaget mit aufgeschobener Nachahmung bezeichnet
hat. Ab dem Alter von 18 Monaten ist sie bei Kindern zu beobachten. Diese Kinder scannen einfache
Handlungsabläufe (in einem Kochtopf rühren, oft auch mit feinmotorischen Anteilen, deren funktionale
Regelkreise ja links-hemisphärisch niedergelegt sind) und reproduzieren diese dann etwas später
scheinbar ohne jeden äußeren Anlass, manchmal beobachtbar still in einer Ecke sitzend. Es handelt sich
bei dieser aufgeschobenen Nachahmung um einen wichtigen unverzichttbaren Schritt auf dem Weg zur Bildung
von Symbolen.
Im Alter von 18 Monaten ist die Phase des Einwortsatzes in voller Blüte. Der Gedanke liegt nahe, dass
auch bei dem Blick auf die Lippen eines Sprechers eine Art aufgeschobene Nachahmung mitwirkt. Da
gäbe es zweifelsfrei noch viel zu untersuchen, vor allem, warum die sehr vielfältigen und komplexen
Bewegungsanteile, die an einem einzigen Wort mitwirken, sichtlich ebenfalls übertragen werden können.
Ein Umstand fällt auf, der vielleicht zu einer Erklärung beitragen könnte: Wir nutzen den Blick
in die Augen unseres Kommunikationspartners, um zu sehen, ob wir uns erfolgreich verständigt haben.
Grundsätzlich ist diese Verständigung zu begrüßen und ein sehr wichtiger Bestandteil unseres
sozialen Lebens. Aber in der Phase des Lautspracherwerbs scheint gerade dieser Blick der Übernahme
von feinmotorischen Bewegungsabläufen im Sprechen im Weg zu stehen.
Mancher Umstand in individuellen Fällen ließ vermuten, dass für dieses Kind die Verständigung so
vordringlich gewesen sein könnte, dass andere Anliegen wie die Arbeit an lautsprachlichen Entitäten
zurücktreten mussten. Gegen die Erwartung handelte es sich bei diesen Kindern im Verlauf ihrer
Schulzeit um recht gute Schüler – vielleicht ein Nebeneffekt des ständigen Bemühens um Verständigung.
Hier geht es aber vor allem um die Praxis: Die einfache kleine Maßnahme des Fingers auf der Unterlippe
ist Eltern sehr gut zu vermitteln. Der Hinweis, nicht zu übertreiben, ist wohl eine Selbstverständlichkeit.
Erfahrungsgemäß wird das in Familien gut umgesetzt.
Übrigens ist das auch bei Kommunikationsproblemen bei Zweisprachigkeit einen Versuch wert. Auch beim
Fremdsprachenerwerb kann dieses einfache Prinzip gut eingesetzt werden.
Selbst hartnäckigen Abweichungen in der Lautsprache kann man versuchen, mit dem Finger auf der Unterlippe
beizukommen.
Für das Funktionieren dieser kleinen Maßnahme ist allerdings ein funktionierender Blick erforderlich.
Das Kind muss fixieren und fokussieren können. Die Nahsicht muss entwickelt sein.
© 2021; Dr. Sigrid Graumann-Brunt
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