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Dr. Sigrid Graumann-Brunt
Sea squirts und die Frage, ob wir bei einer sitzenden Lebens- weise
ein Nerven- system und ein Gehirn brauchen
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Sea squirts und die Frage, ob wir bei einer sitzenden Lebensweise ein Nervensystem und ein Gehirn brauchen
© Dr.Sigrid Graumann-Brunt
Sea squirts sind VIPs, aber das nicht wegen ihrer unbestreitbaren Schönheit,
sondern weil sie als besonders konsequente Vertreter eines nachhaltigen Umgangs mit
ihren eigenen Ressourcen bekannt geworden sind.
Diese Bilder stammen von Goodheart's Extreme Science
https://goodheartextremescience.wordpress.com/?s=
Ist es wirklich wahr, dass sie ihr Gehirn selbst aufessen? fragt jemand in einem
Blog. Ja, es ist sichtlich wahr, sie tun es, und zwar von dem Moment an, in dem sie sich
niederlassen und sich damit begnügen, nur noch auf Nahrung zu warten, die an ihnen
vorbeischwimmt und die sich ihnen anbietet. Sie suchen nicht mehr danach und verändern
ihren Ort nicht mehr.
Diese Beobachtungen gaben Anlass dazu, sich zu fragen, ob das Zusammentreffen einer fest
sitzenden Lebensweise und der Abbau bzw. der Verzicht auf ein Nervensystem, so wie es bei
dem sea squirt in seiner späteren Lebensphase zu finden ist, vielleicht gar nicht auf
diese Lebewesen beschränkt sein könnte, sondern ob da etwas dahinterstecke, was
generellerer Natur sein könnte.
Der Frage ist nachgegangen worden. Bei verschiedenen Autoren finden wir Hinweise,
die allesamt in dieselbe Richtung weisen. Im Vorwege wird meist angemerkt, dass
sea squirts Wirbeltiere seien, demnach, wenn auch sehr entfernte, Verwandte, was
uns dazu berechtigen würde, Parallelen zu ziehen (bei Tintenfischen ist das wohl
anders, siehe hierzu die sehr interessanten Hinweise am Schluss des so überaus
lesenswerten Buches von R. Llinás I of the vortex: From neurons to self).
In Texten der funktionalen Neurologie finden wir Überlegungen zur Natur der zielgerichteten
selbständigen Bewegung in einer Umgebung. Willkürliche Bewegungen haben logischer
und natürlicherweise immer eine Richtung; diese muss im Kontext der Zielbestimmung im
Voraus definiert werden. Das bringt den Bedarf einer Planung mit sich sowie die Notwendigkeit
der Bereitstellung sinnvoll zu einem Ganzen koordinierter Einzelimpulse. Natürlich sind
diese oberflächlich gesehen motorisch, aber die Einflüsse weiterer Systeme,
sensorischer, endokriner, vegetativer, emotionaler sowie Erfahrungswerte dürfen dabei
nicht außer Acht gelassen werden. Auch die Zeitlinie spielt eine Rolle, denn die
Planung richtet sich in der Gegenwart auf etwas Zukünftiges.
Am Ende dieser Überlegungen steht, dass die Fortbewegung beim sea squirt und die
Entwicklung und der Gebrauch eines Nervensystems, eines Gehirns, so eng miteinander verbunden
sind, dass dessen Maßnahme, selbiges zu recyceln, nachdem das Lebewesen eine permanent
sitzende Lebensweise einnimmt, vollkommen logisch zu sein scheint.
Kann man aus diesen Zusammenhängen tatsächlich für unser menschliches Leben
Schlüsse ziehen? Die funktionelle Neurologie sagt: durchaus. Bei ihr finden wir Aussagen
zu der Entwicklung von Bewegung und der von Denkvorgängen. Eigentlich geht sie noch
weiter, denn sie gibt Hinweise, denen wir eine Verwendung der zunächst durch Bewegung
gebahnten FAPs durch Denkvorgänge entnehmen können.
Allerdings gibt es viele Implikationen, die bedacht werden müssen. Leider ist das Ganze
keineswegs simpel. Natürlich bedarf das (feinmotorische) Greifen nach einem Gegenstand
eines Plans und das Hantieren damit umso mehr, es ist aber keine Fortbewegung des Körpers
mit Ortsveränderung und dem damit einhergehenden veränderten Blick auf die Umgebung.
Schon muss man differenzieren zwischen zielgerichteter Bewegung mit oder ohne
Ortsveränderung, sicherlich auch zwischen Feinmotorik und Grobmotorik. Viele weitere
Fragen drängen sich auf.
Schwierigkeiten gibt es auch, wenn man anfängt, die Natur der angeborenen (nicht bewussten)
Muster der frühkindlichen Bewegungen einzubeziehen. Die fetale Bewegung hat zweifelsfrei
bereits ein Muster (ohne Ortsveränderung des Körpers), aber was ist mit ungerichteten
Bewegungen oder dem Strampeln?
Eines jedoch ist völlig klar, dass nämlich Bewegung ein ganz besonderer Stellenwert
zukommt. Seit längerer Zeit weiß man, dass Bewegung bei vielen
Krankheitszuständen, physischen wie psychischen, hilft.
Aber es ist auch wichtig, besonders im Umgang mit Kindern, im Kopf zu behalten, dass Bewegung
Denkvorgänge voran bringt. Dass damit nicht nur sportliche Aktivitäten gemeint sind,
sondern dass es um weit mehr geht, zeigt das Bild von Bruegel zum Kinderspiel besonders
anschaulich. Ob Symbolspiel, Gesellschaftsspiel, sportliche Wettkämpfe, alle Kinder
sind in Bewegung feinmotorisch wie auch grobmotorisch). Sogar Frühkindliches ist zu
sehen, denn im Garten sitzt ein Junge mit geschlossenen Augen in Beugehaltung.
Wie bereits gesagt, es gibt viele Aspekte, die in diesen Zusammenhang zu diskutieren wären.
Ein Beispiel für solcherart Fragen wäre auch, ob Zusammenhänge zwischen
Spezifika in der Entwicklung der Bewegung, in der Art des Entstehens eigenständiger
Planung und Eigenarten in der Entwicklung der Gedankenwelt gefunden werden könnten.
Die Zusammenhänge zwischen Bewegung und der Entwicklung des Denkens werden nicht erst
in neuerer Zeit thematisiert,. Auch Piaget hat in der Bewegung die Wurzeln der Entwicklung
des Denkens gesehen. In der Pädagogik der 30er Jahre in Deutschland gab es viele Ansätze,
die in diese Richtung wiesen, wie z.B. der ganzheitliche von Johannes Wittmann, der bei der
Entwicklung des Zahlbegriffs die Kinder in ihrer Bewegung in der Gruppe einband.
Viel früher schon verwies Gottfried Keller in einer Erzählung darauf, dass ein
Bezug zwischen Bewegung und Denken auch in der anderen Richtung erfolgen kann, dass man
nämlich die Bewegung über das Denken fördern kann:
In seiner Geschichte Das Fähnlein der sieben Aufrechten wird diese Art der
Gedankenarbeit thematisiert. Karl, der Held der Geschichte, muss unbedingt Schießen
können, um seine geliebte Hermine zu erringen. Sein Vater will ihm aber die Mittel
für das Üben nicht geben, einmal aus grundsätzlicher schweizerischer Sparsamkeit,
aber auch, weil er sich mit seinem Freund, dem Vater von Hermine, dazu verschworen hat, ihre
Freundschaft nicht durch eine Heirat ihrer Kinder in Gefahr zu bringen. Es kommt zu folgender
Szene (Zitat):
… Allein er (der Vater) kam eben recht, als Karl sein halbes Dutzend Fehlschüsse schon
hinter sich hatte und nun eine Reihe ziemlich guter Schüsse abgab.
Du machst
mir nicht weis, sagte er erstaunt, dass du noch nie geschossen habest;
du hast heimlich schon manchen Franken dafür ausgegeben, das steht fest!
Heimlich habe ich wohl schon geschossen, aber ohne Kosten. Wißt Ihr wo,
Vater?
Das hab` ich mir gedacht!
Ich habe als Junge oft dem Schießen zugesehen, aufgemerkt, was darüber
gesprochen wurde, und seit Jahren schon empfand ich eine solche Lust dazu, dass ich
davon träumte, und wenn ich noch im Bette lag, in Gedanken die Büchse stundenlang
regierte und Hunderte von wohlgezielten Schüssen nach der Scheibe sandte.
Das ist vortrefflich! Da wird man in Zukunft ganze Schützenkompanien ins
Bett konsignieren und solche Gedankenübungen anordnen; das spart Pulver und Schuh´!
Das ist nicht so lächerlich, als es aussieht“, sagte der erfahrene Schütz,
der Karl unterrichtete, „es ist gewiss, dass von zwei Schützen, die an Auge und Hand
gleich begabt sind, der, welcher ans Nachdenken gewöhnt ist, Meister werden wird.
…. .
Karl gewinnt natürlich im Fortgang der Geschichte den ersehnten silbernen Becher durch
seine Schießkünste und so auch seine Hermine.
Glaubt man Keller, und das kann man, dann widerspricht ein Zustand des Verharrens nicht
unbedingt dem Vorhandensein eines Gehirns. Sein Protagonist macht, wiewohl ruhig daliegend,
reichlich Gebrauch davon. Karl hat allerdings ein (gedankliches) Ziel und Pläne, die
mit Bewegung zu tun haben: er will ja Hermine erobern. Allerdings sind wir dann doch wieder
bei den sea squirts, denn die tun beim Herumschwimmen nicht viel anderes, sie suchen
nämlich einen Partner; ist das erledigt, brauchen sie anscheinend kein Nervensystem
und kein Gehirn mehr. Wie es mit Karl später weitergeht, wissen wir leider nicht.
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