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Dr. Sigrid Graumann-Brunt
Kauen, Sprechen und die M. pterygoidei
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Kauen, Sprechen und die M. pterygoidei
© Dr.Sigrid Graumann-Brunt
In der sprachtherapeutischen Praxis trifft man immer wieder auf Patienten, die Probleme mit
dem Kauen fester Speisen haben. Es ist kein Zufall, dass wir diese Patienten in der
Sprachtherapie finden, denn sprechmotorische Probleme gehen damit oft Hand in Hand.
Das ist gar nicht abwegig, es ist vielmehr seit längerem bekannt, dass in den
Sprechbewegungen Anteile des Kaumusters wiederzufinden sind (siehe hierzu Fröschels:
Zumindest das Öffnen und Schließen des Mundes, aber auch die Vorwärts-
und Rückwärtsbewegungen des Unterkiefers sind in beiden Mustern zu finden.).
Sprech- und Kaubewegungen sind jedoch nicht identisch, es gibt Unterschiede, z.B. ist die
Kieferwinkelöffnung beim Sprechen anders als beim Kauen und die Zahnreihen sind dabei
weiter auseinander, der Mund ist beim Kauen überdies meist geschlossen. Dennoch
können wir von Ähnlichkeiten ausgehen und es lohnt sich, das Kauen näher
zu betrachten und die Sprechbewegungen dabei im Hinterkopf zu behalten.
Das Kiefergelenk ist ein kleines technisches Wunderwerk, denn es ermöglicht uns,
den Mund aufzuklappen, zu schließen, aber auch, den Unterkiefer nach vorne und
wieder zurück zu schieben. Werden Öffnung und Vorwärtsschub kombiniert,
so entsteht eine schaufelartige Bewegung. Vielleicht stammt daher die Idee des Schaufelbaggers.
Die Muskeln, die am Kauen beteiligt sind, sind übersichtlich: Es sind
- der M. temporalis (1) (= Schläfenmuskel: leistet den Kaudruck und den
Zug des Unterkiefers rückwärts) und
- der M.masseter (2) (= Kaumuskel, leistet den Kaudruck) ,
- der Flügelmuskel M.pterygoideus lateralis (3) (= der äußere
Flügelmuskel: zieht den Unterkiefer nach vorn) und
- der Flügelmuskel M. pterygoideus medialis (4) (= der innere Flügelmuskel:
trägt zum Kaudruck bei)
Aus: Lippert, Anatomie. Text und Atlas, 10. Auflage 2017 © Elsevier GmbH, Urban & Fischer,
München (Für eventuelle Ansprüche von Dritten können wir keine Haftung übernehmen.)
Die ersten drei der aufgeführten Muskeln sind besonders kräftig, sie sind
am Schließen des Mundes beteiligt und üben den Kaudruck aus.
Die funktionale Mechanik des Kauens wird für jemanden, der viel an mechanischen
Geräten bastelt, problemlos zu durchschauen sein, aber für alle anderen bedarf
es eines gewissen Einfühlens.
Das fängt mit dem M. temporalis an, bei dem intern zwischen zwei Aufgaben differenziert
werden muss: Seine vorderen Teile agieren wie der M. masseter (Kaudruck), aber seine hinteren
Abschnitte machen etwas anderes, sie ziehen nämlich den Unterkiefer rückwärts.
Der Gegenspieler dieser Anteile des M. temporalis, der M. pterygoideus lateralis
(=der äußere Flügelmuskel) zieht den Unterkiefer nach vorn.
Bewegungsmuster:
Der Mund wird geöffnet, indem der äußere Flügelmuskel den Unterkieferkopf
aus der Gelenkpfanne nach vorne zieht. Weitere Bänder, die der Übersichtlichkeit
halber hier weggelassen werden, halten den Unterkiefer dabei stabil und ziehen nach unten.
Der Unterkiefer wird nach vorne geschoben, indem der äußere Flügelmuskel
zieht und Masseter und innerer Flügelmuskel die Kieferöffnung verhindern.
Das Zurückziehen des Unterkiefers leisten die unteren Abschnitte des M. temporalis,
dann aber muss der äußere Flügelmuskel (M. pterygoideus lateralis) sich
zurücknehmen.
Soweit, so gut, aber die mahlende Bewegung vollzieht sich leider nicht gleichsinnig, sondern
(vielleicht vergleichbar unserer ausgereiften Vorwärtsbewegung, die ein Kreuzmuster
verwendet) gegensinnig. Das bedeutet, dass beim mahlenden Kauen der Unterkiefer abwechselnd
nach rechts und nach links schwenkt. Erzeugt wird das dadurch, dass das Kiefergelenk auf der
einen Seite nach vorn und auf der anderen Seite nach hinten gezogen wird.
Frühere und spätere Muster
Um das leisten zu können, dürfen die frühen Bewegungsformen, bei denen im
Mundbereich links und rechts gleichsinnig agiert wird, nicht mehr dominieren. Sind noch
Reste des Saugreflexes vorhanden und aktivieren sich, so werden sie hinderlich
dazwischenfunken. Die Arbeit an Resten des Saugens (mit geschlossenen Augen!)
sollte in solchen Fällen grundsätzlich einbezogen werden.
Zieht man die Komplexität der Bewegungsmuster in Betracht, so wundert es nicht, dass
sie schnell gestört sind und dann in der therapeutischen Praxis über ungenügendes
Kauen geklagt wird. Der Unterkiefer kann zu klein geblieben sein (er ist bei der Geburt
vergleichsweise winzig, erst, wenn gekaut und nicht mehr gesaugt wird, ist mehr
Masse vonnöten). Die Kieferwinkelöffnung kann zu eng sein, der
Unterkiefervorschub nicht genügend oder ganz fehlen usw. (siehe hierzu auch die
einleuchtenden Betrachtungen aus der Verhaltensbiologie von Angermann, die nahelegen,
dass erst ab einem bestimmten Entwicklungsalter der Vorschub des Unterkiefers als
soziales Zeichen geleistet werden kann und darf). Bezieht man die Verhältnisse
in der Muskulatur des Schädels ein – und das ist geraten, so weit es irgend leistbar
ist – so ist es klar, dass insbesondere die komplexe Funktion des M. temporalis durch
Verspannungen allgemeiner Art im Schädelbereich empfindlich beeinträchtigt
sein kann. Weiter kann natürlich auch eine psychische Komponente zu Problemen
beitragen, denn jeder kennt es – in kritischen Situationen heißt es,
die Zähne zusammenzubeißen – alles ist dann angespannt.
Asymmetrien sind in den Symptomkomplexen häufig zu finden, da sich diese im Kiefergelenk
besonders gerne niederschlagen und dann nicht nur der Vorwärtsschub klemmt.
Oft kommen in den Fällen noch Reste des tonischen Labyrinthreflexes hinzu, die das
Manövrieren des Unterkiefers erschweren (siehe hierzu die Bilder zur Unterkieferstellung
im Vortrag zum Stottern). Welcher Genese diese Asymmetrien auch sein mögen, sie stören
mittelbar das Kauen und auch das Sprechen, schädigen die Gelenke und Muskelpartien und
können zu einer Ablehnung gröberer Nahrung führen. Ganz grundsätzlich
ist deshalb eine Arbeit an den Asymmetrien nie verkehrt, sie stellt genauer gesagt, eine
der Rahmenbedingungen einer Behandlung dar. Aber es gibt auch sehr einfache Tipps, die
weiterhelfen können.
Den M. temporalis zu massieren und an dessen An- und Entspannung zu üben (bezogen
auf den vorderen und hinteren Teil des M. temporalis), ist anzuraten. Er ist meist gut
zu ertasten.
Eine Entspannung der gesamten Kopfmuskulatur durch Massage (wie es ein guter Frisör
auch kann) ist im Allgemeinen sehr willkommen.
Man kann auch das sog. Kopfgelenk (fingerbreit, oberhalb des Keilbeinflügels, neben
dem Schläfenbein, dort sind Verspannungen häufig) vom Kind ertasten und von
ihm selbst leicht massieren lassen.
Häufig sind die M. pterygoidei schmerzhaft verspannt. Kinder können sehr gut
Spannungen der Flügelmuskeln mit dem eigenen Zeigefinger im Mund lösen
(der andere Finger gibt den Ort außen beim Ohr als Hilfe an).
Hier wurden die Probleme der Statik des gesamten Körpers sowie die der Kopfhaltung
der Übersichtlichkeit halber vernachlässigt. Das gilt auch für einige weitere
Aspekte wie den, dass der Unterkiefer trotz seiner knöchernen Beschaffenheit nicht nur
funktional, sondern auch nach seiner Genese dem Verdauungssystem zugeordnet werden sollte
(siehe hierzu die Aussagen der Embryologie zu deren Entwicklung aus einem gemeinsamen Somiten)
und dass Verdauungsprobleme und Dysfunktionen des Unterkiefers in dessen funktionalen
Bewegungsmustern in Zusammenhang stehen können. Die Sprachlautproduktion wurde
hier ebenfalls vernachlässigt, obwohl es interessant wäre, zu untersuchen
wo mahlende Anteile in der Sprechmotorik zu finden wären (vielleicht
beim sch im Deutschen?). Hier führt das zu weit.
Dem Verlag Elsevier ein herzliches Dankeschön für die Genehmigung der Abbildung
der Bilder aus dem (von mir sehr geschätzten) Buch von Lippert, dem ich auch die Informationen
zu dem Sachverhalt des Kauens verdanke.
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