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    © 2018 Dr. Graumann-Brunt

Eingangstür geschlossen Dr. Sigrid Graumann-Brunt

Kauen, Sprechen und die M. pterygoidei
Eingangstür geöffnet


Kauen, Sprechen und die M. pterygoidei

© Dr.Sigrid Graumann-Brunt

In der sprachtherapeutischen Praxis trifft man immer wieder auf Patienten, die Probleme mit dem Kauen fester Speisen haben. Es ist kein Zufall, dass wir diese Patienten in der Sprachtherapie finden, denn sprechmotorische Probleme gehen damit oft Hand in Hand. Das ist gar nicht abwegig, es ist vielmehr seit längerem bekannt, dass in den Sprechbewegungen Anteile des Kaumusters wiederzufinden sind (siehe hierzu Fröschels: Zumindest das Öffnen und Schließen des Mundes, aber auch die Vorwärts- und Rückwärtsbewegungen des Unterkiefers sind in beiden Mustern zu finden.).

Sprech- und Kaubewegungen sind jedoch nicht identisch, es gibt Unterschiede, z.B. ist die Kieferwinkelöffnung beim Sprechen anders als beim Kauen und die Zahnreihen sind dabei weiter auseinander, der Mund ist beim Kauen überdies meist geschlossen. Dennoch können wir von Ähnlichkeiten ausgehen und es lohnt sich, das Kauen näher zu betrachten und die Sprechbewegungen dabei im Hinterkopf zu behalten.

Das Kiefergelenk ist ein kleines technisches Wunderwerk, denn es ermöglicht uns, den Mund aufzuklappen, zu schließen, aber auch, den Unterkiefer nach vorne und wieder zurück zu schieben. Werden Öffnung und Vorwärtsschub kombiniert, so entsteht eine schaufelartige Bewegung. Vielleicht stammt daher die Idee des Schaufelbaggers.

Die Muskeln, die am Kauen beteiligt sind, sind übersichtlich: Es sind

-  der M. temporalis (1) (= Schläfenmuskel: leistet den Kaudruck und den Zug des Unterkiefers rückwärts) und

-  der M.masseter (2) (= Kaumuskel, leistet den Kaudruck) ,

      Kaumuskeln Bild 1

-  der Flügelmuskel M.pterygoideus lateralis (3) (= der äußere Flügelmuskel: zieht den Unterkiefer nach vorn) und

-  der Flügelmuskel M. pterygoideus medialis (4) (= der innere Flügelmuskel: trägt zum Kaudruck bei)

      Kaumuskeln Bild 2

Aus: Lippert, Anatomie. Text und Atlas, 10. Auflage 2017 © Elsevier GmbH, Urban & Fischer, München (Für eventuelle Ansprüche von Dritten können wir keine Haftung übernehmen.)

Die ersten drei der aufgeführten Muskeln sind besonders kräftig, sie sind am Schließen des Mundes beteiligt und üben den Kaudruck aus.

Die funktionale Mechanik des Kauens wird für jemanden, der viel an mechanischen Geräten bastelt, problemlos zu durchschauen sein, aber für alle anderen bedarf es eines gewissen „Einfühlens“.

Das fängt mit dem M. temporalis an, bei dem intern zwischen zwei Aufgaben differenziert werden muss: Seine vorderen Teile agieren wie der M. masseter (Kaudruck), aber seine hinteren Abschnitte machen etwas anderes, sie ziehen nämlich den Unterkiefer rückwärts. Der Gegenspieler dieser Anteile des M. temporalis, der M. pterygoideus lateralis (=der äußere Flügelmuskel) zieht den Unterkiefer nach vorn.

Bewegungsmuster:

Der Mund wird geöffnet, indem der äußere Flügelmuskel den Unterkieferkopf aus der Gelenkpfanne nach vorne zieht. Weitere Bänder, die der Übersichtlichkeit halber hier weggelassen werden, halten den Unterkiefer dabei stabil und ziehen nach unten.

Der Unterkiefer wird nach vorne geschoben, indem der äußere Flügelmuskel zieht und Masseter und innerer Flügelmuskel die Kieferöffnung verhindern.

Das Zurückziehen des Unterkiefers leisten die unteren Abschnitte des M. temporalis, dann aber muss der äußere Flügelmuskel (M. pterygoideus lateralis) sich zurücknehmen.

Soweit, so gut, aber die mahlende Bewegung vollzieht sich leider nicht gleichsinnig, sondern (vielleicht vergleichbar unserer ausgereiften Vorwärtsbewegung, die ein Kreuzmuster verwendet) gegensinnig. Das bedeutet, dass beim mahlenden Kauen der Unterkiefer abwechselnd nach rechts und nach links schwenkt. Erzeugt wird das dadurch, dass das Kiefergelenk auf der einen Seite nach vorn und auf der anderen Seite nach hinten gezogen wird.

Frühere und spätere Muster

Um das leisten zu können, dürfen die frühen Bewegungsformen, bei denen im Mundbereich links und rechts gleichsinnig agiert wird, nicht mehr dominieren. Sind noch Reste des Saugreflexes vorhanden und aktivieren sich, so werden sie hinderlich „dazwischenfunken“. Die Arbeit an Resten des Saugens (mit geschlossenen Augen!) sollte in solchen Fällen grundsätzlich einbezogen werden.

Zieht man die Komplexität der Bewegungsmuster in Betracht, so wundert es nicht, dass sie schnell gestört sind und dann in der therapeutischen Praxis über ungenügendes Kauen geklagt wird. Der Unterkiefer kann zu klein geblieben sein (er ist bei der Geburt vergleichsweise winzig, erst, wenn gekaut und nicht mehr gesaugt wird, ist mehr „Masse“ vonnöten). Die Kieferwinkelöffnung kann zu eng sein, der Unterkiefervorschub nicht genügend oder ganz fehlen usw. (siehe hierzu auch die einleuchtenden Betrachtungen aus der Verhaltensbiologie von Angermann, die nahelegen, dass erst ab einem bestimmten Entwicklungsalter der Vorschub des Unterkiefers als soziales Zeichen geleistet werden kann und darf). Bezieht man die Verhältnisse in der Muskulatur des Schädels ein – und das ist geraten, so weit es irgend leistbar ist – so ist es klar, dass insbesondere die komplexe Funktion des M. temporalis durch Verspannungen allgemeiner Art im Schädelbereich empfindlich beeinträchtigt sein kann. Weiter kann natürlich auch eine psychische Komponente zu Problemen beitragen, denn jeder kennt es – in kritischen Situationen heißt es, „die Zähne zusammenzubeißen“ – alles ist dann angespannt.

Asymmetrien sind in den Symptomkomplexen häufig zu finden, da sich diese im Kiefergelenk besonders gerne niederschlagen und dann nicht nur der Vorwärtsschub „klemmt“. Oft kommen in den Fällen noch Reste des tonischen Labyrinthreflexes hinzu, die das Manövrieren des Unterkiefers erschweren (siehe hierzu die Bilder zur Unterkieferstellung im Vortrag zum Stottern). Welcher Genese diese Asymmetrien auch sein mögen, sie stören mittelbar das Kauen und auch das Sprechen, schädigen die Gelenke und Muskelpartien und können zu einer Ablehnung gröberer Nahrung führen. Ganz grundsätzlich ist deshalb eine Arbeit an den Asymmetrien nie verkehrt, sie stellt genauer gesagt, eine der Rahmenbedingungen einer Behandlung dar. Aber es gibt auch sehr einfache Tipps, die weiterhelfen können.

Den M. temporalis zu massieren und an dessen An- und Entspannung zu üben (bezogen auf den vorderen und hinteren Teil des M. temporalis), ist anzuraten. Er ist meist gut zu ertasten.

Eine Entspannung der gesamten Kopfmuskulatur durch Massage (wie es ein guter Frisör auch kann) ist im Allgemeinen sehr willkommen.

Man kann auch das sog. Kopfgelenk (fingerbreit, oberhalb des Keilbeinflügels, neben dem Schläfenbein, dort sind Verspannungen häufig) vom Kind ertasten und von ihm selbst leicht massieren lassen.

Häufig sind die M. pterygoidei schmerzhaft verspannt. Kinder können sehr gut Spannungen der Flügelmuskeln mit dem eigenen Zeigefinger im Mund lösen (der andere Finger gibt den Ort außen beim Ohr als Hilfe an).

Hier wurden die Probleme der Statik des gesamten Körpers sowie die der Kopfhaltung der Übersichtlichkeit halber vernachlässigt. Das gilt auch für einige weitere Aspekte wie den, dass der Unterkiefer trotz seiner knöchernen Beschaffenheit nicht nur funktional, sondern auch nach seiner Genese dem Verdauungssystem zugeordnet werden sollte (siehe hierzu die Aussagen der Embryologie zu deren Entwicklung aus einem gemeinsamen Somiten) und dass Verdauungsprobleme und Dysfunktionen des Unterkiefers in dessen funktionalen Bewegungsmustern in Zusammenhang stehen können. Die Sprachlautproduktion wurde hier ebenfalls vernachlässigt, obwohl es interessant wäre, zu untersuchen wo „mahlende“ Anteile in der Sprechmotorik zu finden wären (vielleicht beim „sch“ im Deutschen?). Hier führt das zu weit.

Dem Verlag Elsevier ein herzliches Dankeschön für die Genehmigung der Abbildung der Bilder aus dem (von mir sehr geschätzten) Buch von Lippert, dem ich auch die Informationen zu dem Sachverhalt des Kauens verdanke.